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Die Mädchen des Dorfes träumen von einer baldigen Heirat. Wen werden Papa und die Heiratsvermittlerin Jente wohl für sie aussuchen? Fotos: Niethammer

Die Mädchen des Dorfes träumen von einer baldigen Heirat. Wen werden Papa und die Heiratsvermittlerin Jente wohl für sie aussuchen? Fotos: Niethammer

17.06.2019 - Reutlinger General-Anzeiger

Schatten überm jüdischen Dorf

Freilichtbühne – Musik, Gefühl und viel Humor: Das Reutlinger Naturtheater bezaubert mit dem Musical "Anatevka"

 

VON ARMIN KNAUER

 

Man muss es den Naturtheaterleuten lassen: Sie haben ein Händchen für Stoffe, die in die Zeit passen. "Anatevka" ist nur auf den ersten Blick ein alter Schinken aus der Musical-Historie. Tatsächlich rührt das Stück von Texter Joseph Stein und Komponist Jerry Bock, 1964 in New York uraufgeführt, sehr menschlich an Themen, die heute aktuell sind wie nie: Globalisierung, Vertreibung, Flucht, Rassismus – im Kern der Zusammenprall einer verwurzelten Identität mit den Umbrüchen der Moderne.

 

Geflüchtete, Vertriebene sind am Ende auch die Bewohner von Anatevka, dieses jüdischen Dörfchens in der Ukraine, das hier so liebevoll porträtiert wird. Es ruht in seinen Traditionen – und doch steht 1905 im russischen Zarenreiche das tobende Weltgeschehen vor den Toren. Fast so bedrohlich wie heute Klimawandel und nationalistischer Wahn.

 

Dem Regie-Duo Alexander Reuter und Michael Gaedt gelingt es, diese Spannung von Idylle und Bedrohung mit Witz und Tempo auf die Bühne zu bringen. Die kleine Welt des jüdischen Dorfes nimmt plastisch Gestalt an bei der Premiere am Samstagabend. Mittendrin Milchmann Tevje, den Gott mit fünf Töchtern gesegnet hat, von denen die drei ältesten völlig andere Heiratspläne haben als der Papa.

 

Mit Ruhe und Souveränität breiten die beiden Regisseure dieses Dorfleben aus. Die Choreografien von Carmen Lamparter sind schwungvoll, bleiben aber immer plausibel eingebettet. Die Personenführung der Regisseure hält stets die Spannung. Wenn Milchmann Tevje etwa das Für und Wieder seiner Entscheidungen abwägt, tritt er aus der Handlung heraus, als habe man die Zeit angehalten.

 

Magische Tricks

Freche Farbkleckse bringen die Zaubertricks von Roxanne hinein, die als "Fiddler" durch die Szenerie streift. Und zwischendurch wird’s auch mal surreal grotesk, wenn Tevje zu einem erfundenen Traum greift, um seiner Frau zu erklären, warum ihre Tochter Zeitel nun doch den armen Schneider Mottel heiraten wird und nicht den reichen Fleischer Lazar Wolf. Da spuken plötzlich Goldes Großmutter und Wolfs verstorbene Gattin samt Anhang ums Ehebett, mit bizarren Nonsens-Kostümen, die an Oskar Schlemmers "Triadisches Ballett" erinnern. Großartig! Mal verengt die Inszenierung den Blick auf den Einzelnen, um ihn gleich wieder zu weiten auf die Gemeinschaft. Selten hat man so das Gefühl gehabt, ein komplettes Dorf auf der Bühne zu erleben!

Lazar Wolf (Ingo Raiser, rechts) gefällt eine Tochter von Tevje (Andreas Pedretti).

Lazar Wolf (Ingo Raiser, rechts) gefällt eine Tochter von Tevje (Andreas Pedretti).

Schneider Mottel (Vincent Knupfer) hält um die Hand von Zeitel (Claudia Schickler) an.

Schneider Mottel (Vincent Knupfer) hält um die Hand von Zeitel (Claudia Schickler) an.

Die Charaktere, sie sind dabei ein Genuss. Man muss ihn einfach mögen, diesen von Andreas Pedretti verkörperten Milchmann Tevje, wie er voll gesunden Menschenverstands mit seinem Schöpfergott debattiert. Wie er immer wieder über seinen Schatten springt aus Liebe zu seinen Töchtern. Bis der Punkt kommt, an dem er die Grenze seiner Toleranz erreicht zu haben glaubt.

 

Nicht weniger Profil gibt Susanne Hammann seiner Frau Golde, der praktischen Bodenständigkeit in Person, kernig, hemdsärmelig, unerschrocken. Was sie zweifellos ihren Töchtern vererbt hat, die in Gestalt von Claudia Schickler, Carina Wurtz und Jenny Glaunsinger hinreißend stur ihrer eigenen Wege gehen. Auch ihre nicht immer zur Freude des Papas auserwählten Bräutigame sind hier so richtige Typen: Vincent Knupfer läuft als schüchterner Schneider Mottel zu großer Courage auf. Ramon Soltic ist als Perchik ein Student von kühlem Verstand, der weiter denkt als bis zur Grenze des Dorfes. Oder Jonas Gleiser als Fedja, der seine Chava mit Heinrich Heine umgarnt – zu Tevjes Entsetzen aber leider kein Jude ist.

 

Dazu Lea Karle als emsig die Fäden ziehende Heiratsvermittlerin Jente, Ingo Raiser als Metzger von großem Durst und Mundwerk und viele andere. Der Eindruck eines bunten Biotops an Typen nimmt hier mitreißend Gestalt an. Ein Übriges tut die liebevoll gestaltete Bühne mit den baumhäuschenartigen Hütten, die bildlich im Boden wurzeln (Bühne: Maja Rumswinkel). Auch die Kostüme (Sibylle Schulze) passen zur Dörfler-Welt.

 

Musikalisch ist die Szenerie erst recht in eine stimmige Atmosphäre getaucht. Komponist Jerry Bock hat sich dafür intensiv in den Klezmer vertieft. Statt Big-Band-Swing und Schlagerpop hört man hier melancholische Klezmerweisen, ein gesungenes Schabbatgebet, osteuropäische Hochzeitsklänge und immer wieder Klezmer-inspirierte zarte Walzer.

 

Kraftvolle Chöre

Dass die Begleitmusik vom Band kommt, ist zu verschmerzen; auch ohne Orchestermusiker bevölkern schon gefühlte Heerscharen die Bühne. Gesungen indes wird hier in der Einstudierung von Oliver Krämer live – und das ziemlich sattelfest! Andreas Pedretti erweist sich als Tevje genauso kraftvoll stimmsicher wie Susanne Hammann als Golde und Claudia Schickler, Carina Wurtz und Jenny Glaunsinger als seine älteren Töchter. Nur Perchiks Duett mit seiner geliebten Hodel wirkt noch etwas unausgereift; mit seinem Schlusston landet Ramon Soltic im Nirgendwo. Aber das wird sicher noch; insgesamt erlebt man beglückende Einzelleistungen und strahlende Chöre.

 

Kurzum: Ein Stück, das mit seiner Geschichte so sehr verzaubert wie mit seiner Musik. Das die Besucher mitnimmt in eine verlorene Vergangenheit und sie gleichzeitig mit den Konflikten ihrer Gegenwart konfrontiert. Und das mit Schwung, Witz und einer Prise Melancholie. Keine Frage, die Produktion hat das Zeug zum Klassiker. (GEA)




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