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Mondänes Berlin von 1929: Der Kit Kat Klub im Cabaret rüstet sich für die Show. Bild: Haas

Mondänes Berlin von 1929: Der Kit Kat Klub im Cabaret rüstet sich für die Show. Bild: Haas

20.06.2016 - Schwäbisches Tagblatt, Tübingen

Die Minelli lässt grüßen: Reutlinger Naturtheater glänzt mit dem Musical "Cabaret"


Wasenwald als Nachtklub

Der Mut des Reutlinger Naturtheaters mit seiner Langzeit-Regisseurin Susanne Heydenreich ist belohnt worden: "Cabaret" nach dem Broadway-Musical von 1956 legt die Messlatte für das Ensemble hoch - nicht zuletzt durch die Verfilmung mit der oscarprämierten Liza Minelli von 1972. Und die 24 Akteurinnen und Akteure meistern das anspruchsvolle Stück mit Bravour, die Premiere am Samstagabend im annähernd ausverkauften Markwasen erntete zurecht Beifallsstürme.


Der arme Poet Clifford Bradshaw (Holger Schlosser) aus den USA verliebt sich in die leichtlebige Berliner Nachtklub-Sängerin Sally Bowles (Carolin Olbricht). Sie zieht kurzerhand bei ihm ein, hängt den Job an den Nagel und wird schwanger. Doch es gibt kein Happy End - sie kann und will sich nicht ändern.


Olbricht glänzt mit ihrem Gesang; in den besten Momenten wird man tatsächlich ein wenig an die legendäre Minnelli erinnert. Etwa bei "Bye-bye mein lieber Herr", als einziger Song wie im Original auf Englisch. Mit Verve und Leidenschaft, ein grandioser Abgesang auf eine Beziehung. Leider nimmt man Olbricht ansonsten die mondäne Sängerin nicht so recht ab. Schlosser mimt den Schriftsteller mit viel Spielfreude. Er wird vom Mitreisenden Ernst Ludwig (Rainer Kurze) zu Botendiensten nach Paris benutzt. Doch Luwig entpuppt sich als Nazi, und der Schriftsteller zeigt, dass er das Herz auf dem richtigen Fleck hat. Er wird übel verdroschen und reist frustriert zurück in die USA. Am Ende hockt das gesamte Ensemble auf gepackten Koffern - doch nur die Nazis brechen auf, die übrigen sacken leblos zusammen.


Bezug zur Gegenwart liegt auf der Hand

Regisseurin Heydenreich zieht keine plumpen Parallelen zwischen damals und heute, aber die Botschaft ist für jedermann klar: "Man muss heute zurückdenken an das, was damals war, damit es nicht wiederkommt", so NTR-Vorsitzender Kurze in seiner Dankesrede.


Breiten Raum wird der Liebesgeschichte zwischen Zimmerwirtin Fräulein Schneider (Claudia Sieger) und dem jüdischen Obsthändler Schulz (Andreas Pedretti) eingeräumt; die beiden bekommen am Ende auch mit den meisten Applaus. Die beabsichtigte Heirat scheitert an den Attacken der Nazis, Fräulein Schneider bangt um ihren Gewerbeschein; ein Stein fliegt durchs Fenster der Obsthandlung. Überhaupt ist im kürzeren zweiten Teil deutlich mehr Dramatik. Vor der Pause tappen die Akteure den betulichen Komödienstadel ein bisschen arg aus; die Exposition ist zu lang geraten.


Erst als Herr Ludwig den Mantel ablegt und darunter das Hakenkreuz prangt, gewinnt die Handlung an Fahrt. Auf der Verlobungsfeier intonieren sie reaktionäres Liedgut und recken die Hand zum Hitlergruß. Die Zuschauer applaudieren dennoch, wie nach beinahe jder Szene. 


Immerhin sind auch die Nebenfiguren liebevoll gezeichnet. Etwa die Untermieterin Fräulein Kost (Julia Coolens) als Seemannsbraut, bei der sich die Matrosen die Klinke in die Hand geben. Das Nachtklub-Ensemble tanzt in Strapsen und Korsetts - und einmal in bajuwarischer Tracht mit Gewehr und Hitlerbärtchen. Eine Heidenarbeit für Kostümbildnerin Sibylle Schulze mit Team. Die Choreografien von Carmen Lamparter sind wie gewohnt bestechend, und der musikalische Part (Leitung: Alexander Reuter) wird von Jahr zu Jahr besser. Das Ensemble singt zum Playback - dank Sondererlaubnis des Verlags, der das eigentlich nicht erlaubt.


Der heimliche Star des Abends ist aber der dämonische Conférencier (Sascha Diener). Er begleitet das Geschehen wie ein Mephisto der Roaring Twenties, sardonisch lächelnd und schließlich mit fliegenden Fahnen zu den Nazis überlaufend. Dabei hat er selbst eine eigenwillige Neigung: Sein Herz gehört einer Gorilladame, die er singend anschmachtet. Nur ein Glanzlicht in einer temporeichen, leidenschaftlich gespielten und gesungenen Inszenierung.


Matthias Reichert

Unterm Strich

Trotz einiger Längen im ersten Teil ein mitreißener Theaterabend. Die Amateurtruppe entfaltet szenisch und gesanglich Qualitäten, die sich hinter professionellen Musicals kaum zu verstecken brauchen.




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