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20.06.2016 - Reutlinger Nachrichten

Im Wechselbad der Gefühle

Mit der toll gesungenen Premiere des pompös-tragischen Musicals "Cabaret" ist jetzt das Reutlinger Naturtheater in den Sommer gestartet

 

KATHRIN KIPP

Saisonstart am Naturtheater Reutlingen:

Saisonstart am Naturtheater Reutlingen: "Cabaret" in der Regie von Susanne Heydenreich ist bis 27. August zu sehen / Foto: Kathrin Kipp

Flotter Betrieb hier, wa?" In Fräulein Schneiders Pension geht es drunter und drüber, allerlei illustre Gäste haben sich eingemietet: das kesse Fräulein Kost mit wechselndem Herrenbesuch, der brave Herr Schulz sowie der geschmeidige Schriftsteller Cliff Bradshaw aus den USA, der schon an seinem ersten Abend in Berlin in die glitzernde Halbwelt des Kit Kat Klubs eintaucht.

 

Am Horizont steigen aber nicht nur im Wasenwald, sondern auch im Berlin Anfang der 1930er-Jahre dunkle Wolken auf, und die ganze Stadt stürzt sich noch einmal krampfhaft ins Amüsement, als gäbe es kein Morgen. Gibt es auch nicht, denn auch im Kit Kat setzen sich mehr und mehr die Hakenkreuze und Schläger durch, mischt sich Marschmusik unter die neckischen Chansons, und die Menschen müssen sich so langsam entscheiden, wessen Lied sie singen. "Haben wir denn eine Wahl?", fragt sich nicht nur das Fräulein Schneider, als klar wird, dass Mitläufertum sich lohnt und Widerstand die Existenz kostet. Und so verkaufen hier nicht nur die sexy Kit Kat-Girls ihre prallen Körper, sondern irgendwie alle ihre Seele.

 

Damit stellt das 1956 am Broadway uraufgeführte Musical seinen Zuschauern die Frage, wie weit jeder gehen würde, um seine seelische, politische und moralische Überzeugung, Unabhängigkeit und Würde zu bewahren. In Pension und Klub (Bühne: Timm Czarnotta) tummeln sich jedenfalls jede Menge Verdränger, Mitläufer und Wegläufer, Opfer, Täter, Oppositionelle und Opportunisten, und für alle gilt: "Money makes the world go around".

 

Regisseurin Susanne Heydenreich schickt ihre Zuschauer mit ihrer bilderreichen Version des Musicals durch ein atmosphärisches Wechselbad der Gefühle: von heißer Lebenslust, knackiger Erotik, dekadentem Spaßzwang, kitschig-braver Romantik bis hin zum Scheitern sämtlicher Lebensentwürfe ist hier alles geboten: abwechslungsreich untermalt von den grandios gesungenen Chansons - von "Willkommen, Bienvenue, Welcome" bis hin zum programmatischen Tanz mit dem Affen wandelt sich ständig die Stimmungslage. Bis zum schrecklichen Höhepunkt, als sich das Spaßidyll mehr und mehr in knallharten Ernst verwandelt: Das Volk steht plötzlich stramm und schmettert eine bedrohlich-völkische Vaterlandhymne - der "Sturm ist nah" - samt Hitlergruß durch den Wasenwald. Da bekommt man es auch als Zuschauer mit der Angst zu tun, Pegida-Assoziationen machen sich breit, und auch NTR-Vorstand Rainer Kurze betont am Ende, wie das Stück gemeint ist: als Mahnung, "damit so etwas nie wieder passiert".

 

Alexander Reuter hat wieder die Songs einstudiert, die Sängerinnen und Sänger spielen ihre jahrelange Routine aus und singen die schmissigen, schmachtenden, verspielten und schrägen, bombastischen, melancholischen, sehnsüchtigen und neckischen Songs mit viel Inbrunst und Gefühl, frei aus der Seele heraus. Dazwischen führt Glamourboy Sascha Diener zunächst noch als transvestitischer Traum in Weiß mit Federboa durch die Show, bevor er die Hüllen fallen lässt und sich zu einem androgynen Mischwesen aus traurigem Harlekin, diabolischer Lederqueen und glitzernder Fummeltrine entwickelt (Kostüme: Sibylle Schulze).

 

Der Master Of Ceremony wird zwar von seinen Tanzgirls (Carina Armbruster, Kim Glaunsinger, Manuela Hansow, Frauke Rausenberger, Ana Zivkovic) mit viel Straps, Glitzer und Leder angetanzt, in den prächtigen Choreographien von Carmen Lamparter fliegen Beine, Hüften und Locken, aber der Conferencier bleibt dennoch nur Außenseiter und Beobachter. In seinem verzerrt traurigen Blick spiegelt sich die ganze Tragik der einzelnen Schicksale wider. Wenn unter Diktatur, Rassismus und totaler Überwachung keine Menschlichkeit mehr möglich ist. Da passt auch so ein Sonderling nicht mehr ins System.

 

Obsthändler Schulze als Jude (Andreas Pedretti) wiederum bekommt als Erstes den nationalsozialistischen Durchmarsch zu spüren: Kaum hat er sein spätes Glück gefunden, fliegt auch schon ein Stein durch sein Fenster, und sein biederes Fräulein Schneider (Claudia Sieger) löst die Verlobung, aus Angst vor ökonomischen Nachteilen. Fräulein Kost als kesse Berliner Prostituierte wiederum (Julia Coolens) nimmt's, wie's kommt: Hauptsache, die Kasse stimmt.

 

Der windige Ernst Ludwig (Rainer Kurze) hingegen entpuppt sich als Vollblut-Nazi, während sich Holger Schlossers Cliff zwar noch kurz ins sündige Nachtleben stürzt, letztendlich aber nur an einem brav-bürgerlichen Leben interessiert ist. Da will seine Sally (Carolin Olbricht), die nicht nur brillant singen kann, sondern auch als aufgedrehte Schwatzschnitte über die Bühne fegt, allerdings nicht mit. Und so bleibt jeder in seinem Kleinklein verhaftet, und die fröhlichen Lieder verstummen.

Im Blick des Conférenciers (Sascha Diener) - hier mit einem seiner Tanzgirls - spiegelt sich die Tragik der einzelnen Schicksale wider / Foto: Kathrin Kipp

Im Blick des Conférenciers (Sascha Diener) - hier mit einem seiner Tanzgirls - spiegelt sich die Tragik der einzelnen Schicksale wider / Foto: Kathrin Kipp




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