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20.06.2016 - Reutlinger General-Anzeiger

Bühne - Das Naturtheater Reutlingen startet mit dem Musical "Cabaret" fulminant in die neue Spielzeit


Ein tiefer Riss geht durch die Gesellschaft

VON CHRISTOPH B. STRÖHLE

 

Als eindringliche Mahnung gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus hat Regisseurin Susanne Heydenreich am Naturtheater Reutlingen das Musical "Cabaret" inszeniert. Rainer Kurze, der erste Vorsitzende des Theatervereins, der im Stück einen fanatischen Nazi spielt, erklärte am Samstag nach der Premiere, dass es mitunter zwar schwer bekömmlich, aber auch notwendig sei, "zurückzudenken, dass das, was war, nicht wiederkommt".


Drei Stunden lang – die allerdings wie im Flug vergingen – hatte das Ensemble auf der Wasenwald-Bühne eine bewegende Vorstellung gegeben. Bei nicht ganz sommerlichem, aber solidem Wetter klappte auf wie hinter der Bühne nahezu alles wie am Schnürchen.

 

Die Kulisse einer verruchten Nachtbar, des Kit Kat Klubs (Bühnenbild Timm Czarnotta), erfüllten die zwei Dutzend Darsteller ebenso mit Leben wie den heraufziehenden Nationalsozialismus im Berlin der 1930er-Jahre und seine Folgen. Vor 50 Jahren am New Yorker Broadway uraufgeführt, beeindruckt das Musical auch heute noch mit seiner klaren politischen Aussage und grandiosen Songs wie "Money Makes The World Go Around", "If You Could See Her Through My Eyes" und "Mein lieber Herr".

 

Die Musik kommt vom Band, die Darsteller aber singen, wie man das vom Naturtheater gewohnt ist, live auf der Bühne. Und wie! Was der musikalische Leiter Alexander Reuter und das Ensemble erarbeitet haben, sorgt für sinnliches Vergnügen. Und Gänsehautmomente.

 

Sascha Diener führt als Conférencier mit einer Mischung aus clownesker Übertreibung und stummem Ernst durch den Abend. Hinter der auf Show getrimmten Fassade bleibt er immer Menschen-Darsteller. Und begeistert mit seinem Gesang. Viele der bekannten Nummern singt er, solo oder im Ensemble.

 

Stark spielen und singen auch die übrigen Darsteller, allen voran Carolin Olbricht und Holger Schlosser, die als Sally Bowles und Clifford Bradshaw ein unkonventionelles Liebespaar abgeben. Sally tritt im Kit Kat Klub auf, wo jeden Abend ein dekadentes, erotisches Nummernkabarett über die Bühne geht. Der angehende Schriftsteller Clifford lernt sie dort kennen und ist einigermaßen überrascht, als sie anderntags, nachdem sie ihren Job verloren hat, mit Sack und Pack bei ihm einzieht.

Ausgelassen und ernüchtert

Um sie und sich über Wasser zu halten, willigt Clifford ein, für seinen Bekannten Ernst Ludwig Schmuggelausflüge nach Paris zu unternehmen. Er ahnt, dass es dabei auch um Politik geht; allerdings nicht, dass er sich damit zum Helfershelfer der Nazis macht.

 

Zum gesellschaftlichen Mikrokosmos, von dem das Musical erzählt, gehören auch die biedere Pensionswirtin Fräulein Schneider (Claudia Sieger) und Herr Schulz (Andreas Pedretti), der sich mit Obstgeschenken rührend um sie bemüht. Als sich auf der Verlobungsfeier beider herausstellt, dass Schulz Jude und der als Gast anwesende Ernst Ludwig Nationalsozialist ist, lässt Fräulein Schneider die Verlobung aus Sorge darüber platzen, dass sie ihren Gewerbeschein und damit ihre Existenz verliert. Sieger und Pedretti geben ihren Rollen – nicht zuletzt in einem grandiosen Duett – Haltung und Würde. Rainer Kurze gelingt es in der Rolle Ernst Ludwigs, die Borniertheit eines Anhängers der NS-Rasseideologie plastisch zu machen. Julia Coolens setzt als berlinerndes Fräulein Kost, das im horizontalen Gewerbe tätig ist und ihre Freier, meist Matrosen, mit "mein starker Anker" oder "mein Mast" anspricht, komische Akzente.

 

Hinzu kommen die von Carmen Lamparter tänzerisch in Szene gesetzten Kit Kat Klub-Girls Carina Armbruster, Kim Glaunsinger, Manuela Hansow, Frauke Rausenberger und Ana Zivkovic. Und die weiteren Darsteller, die gekonnt von vergnügungssüchtig und ausgelassen auf kalt und ernüchtert umschalten.

 

Bereits vor der Pause deutet sich der tiefe Riss, der durch die Gesellschaft geht, an. Während die Anhänger Hitlers im Brustton der Überzeugung "Der morgige Tag ist mein" singen, geht der Conférencier stumm durch die Reihen und gibt seiner Fassungslosigkeit (und der des Publikums) Ausdruck. Am Ende heben ein paar "Aufrechte" den Arm. Die anderen liegen auf gepackten Koffern am Boden, der sich rot einfärbt.

 

Zu viel der Symbolik? Nein. Das Theater zitiert hier Realität. Und beweist, dass es unterhalten kann und gesellschaftlich relevant ist. (GEA)




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