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24.06.2008 - Reutlinger General-Anzeiger

Mut zu großen Gefühlen: Die erste Saison mit neuer Zuschauerhalle startet mit "Les Misérables"

 

Liebe, Tod und Barrikaden

Von Armin Knauer

 

Gleich das Wichtigste: Die neue Zuschauerhalle des Reutlinger Naturtheaters hat ihren Praxistest bestanden. Glänzte beim Saisonauftakt mit Victor Hugos "Les Misérables" mit freundlichem Holz-Ambiente, bequemen Sitzen und guter Sicht selbst von hinten. Genial! Ein ganz neues Reutlinger Naturtheatergefühl! Nostalgiegefühle nach knarzigem Holzgebälk? Ach was!!

 

Klar, dass so ein Quantensprung nicht mit einer leichten Komödie abgetan werden kann. Etwas Schicksalhaftes musste her. Und wenn das nicht auf "Les Misérables" zutrifft, auf was dann? Flammende Liebe und empörende Niedertracht, menschliche Größe und tiefer Fall - noch nie hat man am Naturtheater die Schicksalsschläge in so dichter Frequenz prasseln sehen. Und selten ist ein Stück hier so anrührend, lebensnah und mit so stimmigen Charakteren präsentiert worden wie die Geschichte des Jean Valjean, der fast zwanzig Jahre in Haft verbringt, weil er einen Laib Brot gestohlen hat. Da heißt es Taschentücher bereithalten!

 

Kinoartig geschnittene Szenen

In kinoartig hintereinander geschnittenen Szenen verfolgt das Publikum das Schicksal des ehemaligen Sträflings Jean Valjean vor dem Hintergrund des zwischen Königstreuen und Freiheitlichen zerrissenen Frankreich. Uwe Rittmann spielt ihn als einen, an dem auch noch der Zweifel nagt, als er sich unter neuer Identität zum Fabrikanten und Bürgermeister hochgearbeitet hat und als Wohltäter der Gemeinde auftritt.

 

Sein Gegenspieler ist der Inspektor Javert, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, Valjean zu entlarven und wieder hinter Gitter zu bringen. Holger Schlosser macht ihn zum Musterbild eines mitleidlosen Apparatschik. Über zwanzig Jahre hinweg, von Kommentaren aus dem Off von Schauplatz zu Schauplatz getragen, verfolgt der Zuschauer das Duell der beiden Antagonisten. Erlebt, wie Valjean versucht, der verelendeten Arbeiterin Fantine zu helfen. Wie er sich nach deren Tod ihrer Tochter Cosette annimmt. Wie er später in Paris im Zusammenhang mit den Barrikadenkämpfen von 1832 von der Vergangenheit eingeholt wird.

 

In der Verdichtung von 1627 Romanseiten auf eine dreistündige Bühnenfassung durch die Autorin Cornelia Wagner wird das alles noch viel mehr zum Melodram. Regisseurin Susanne Heydenreich weicht dem mit ihrem Ensemble nicht aus, sondern bringt das Stück auch konsequent als Melodram auf die Bühne. Da wird nichts verfremdet, nichts ironisiert; vom scheuen Kuss bis zur ergreifenden Sterbeszene - und es sind derer mehrere! - kommt alles unmittelbar und gefühlsstark auf die Bühne.

 

Die Wirkung wird noch gesteigert durch einen regelrechten Soundtrack mit hoch emotionaler Musik. Die schwindsüchtige Fantine (Julia Coolens) stirbt zu Mozarts Requiem; zur gefährdeten Liebe von Cosette (Tanja Schönwälder) und Marius (Sascha Diener) pocht der Trauermarsch aus Beethovens Eroica. Immer wieder tönt die Marseillaise, mal aus den Lautsprechern, mal von den Akteuren aus voller Brust selbst gesungen. Und wenn sich auf den Barrikaden junge Burschen für die Freiheit opfern, wird daraus zur Gänsehaut-Hymne "Brothers In Arms" von den Dire Straits ein Todesballett im Stile von Sam Peckinpahs "The Wild Bunch". Da ist man dann aber an einem Punkt, wo der Rückgriff auf die Kino-Ästhetik hart am klischeehaft Sentimentalen vorbeischrammt.

 

Witz und Tragik dicht gepackt

Viel stärker wiegt jedoch, dass alle Akteure in dieser konzentrierten Fülle schicksalhafter Momente immer glaubwürdig bleiben. Und so fühlt und leidet man mit, wenn Julia Coolens als geschundene Fantine ihre Verzweiflung hinausschreit. Wenn Sascha Diener und Tanja Schönwälder als Marius und Cosette sich im Mondschein anschmachten. Wenn Claudia Sieger als unglücklich verliebte Eponine ihr Leben aushaucht. Wenn die Studenten sich für die Freiheit in den Kugelhagel werfen. Wenn Valjean mit dem Schicksal hadert oder Javert mitleidlos auf dem Gesetz beharrt.

 

Umso mehr, als bei aller Gefühlstiefe Spannung, Tempo und auch immer wieder ein Schuss Humor die Inszenierung bestimmen. Immer wieder verdichtet sich das Geschehen krimi-, ja fast thrillerartig. Der Einmarsch der Akteure über die Bühne beim Bau der Barrikaden vermittelt das Gefühl einer opulenten Massenszene. Tahsin Kuzdere sorgt als Gassenjunge Gavroche immer wieder für quirlig-freche Momente. Vor allem aber laufen Ingo und Ute Raiser als abgrundtief verdorbenes Wirts-Ehepaar Thénardier zu absoluter Hochform auf. Nicht zuletzt ihre Auftritte ziehen einen regelrecht hinein in die düster-schillernde Atmosphäre der Pariser Unterwelt.

 

Und so entfaltet sich im Naturtheater ein Stück, das überzeugend große Politik und einzelnes Schicksal, zartes Glück und lastende Schuld verbindet. Geradeso wie es Victor Hugo ein Anliegen war. Insofern: Experiment geglückt. Beifall: entsprechend.




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