Naturtheater Reutlingen Mark Gewand 3 72762 Reutlingen Wasenwaldfestspiele Wasenwald Festspiele Homepage Naturtheater Reutlingen Mark Gewand 3 72762 Reutlingen Wasenwaldfestspiele Wasenwald Festspiele Homepage


27.04.2019 - Reutlinger General-Anzeiger

KULTUR


"Ein Wellenbad der Gefühle"

Theatermacher – Alexander Reuter und Michael Gaedt inszenieren am Reutlinger Naturtheater das Musical "Anatevka"

 

VON CHRISTOPH B. STRÖHLE

 

Michael Gaedt hat sich als Gründer und langjähriges Mitglied der Comedygruppe "Die kleine Tierschau" hervorgetan und deutschlandweit über 3 500 Vorstellungen gegeben. Alexander Reuter stand in jüngeren Jahren als Jesus in der Rockoper "Jesus Christ Superstar" oder als Che Guevara im Musical "Evita" auf der Bühne von Stadt- und Staatstheatern in ganz Deutschland. Jetzt haben die beiden gemeinsam die Regie beim Erwachsenenstück des Reutlinger Naturtheaters, "Anatevka", übernommen.

 

"Uns ist bewusst, dass wir in große Fußstapfen treten", sagt Michael Gaedt und spielt damit auf Susanne Heydenreichs langjähriges Wirken als Regisseurin am Naturtheater an, das mit "La Cage aux Folles" im vergangenen Jahr vorerst ein Ende fand. Voll des Lobes sind er und Reuter auch über das Ensemble des Naturtheaters. Dieses sei unglaublich inspirierend, man könne, so Gaedt, "mit offenen Herzen und Köpfen gemeinsam auf die Reise gehen".

 

Dabei hatten die Regisseure mit dem ausgewählten Stück zunächst ihre Schwierigkeiten. "Sagt uns das Melodram ›Anatevka‹ heute noch was?", waren sie anfangs skeptisch. "Unsere Kernkompetenz, das wäre eher die Komödie oder die große Show gewesen", sagt Reuter, der 2004 als musikalischer Leiter für "My Fair Lady" ans Naturtheater kam und – mit Unterbrechungen – bis heute dabei geblieben ist.

 

Schon länger habe ihn gereizt, auch mal Regie zu führen, erzählt der gebürtige Stuttgarter. Als man ihn fragte, ob er das Erwachsenenstück übernehmen würde, brachte er als Co-Regisseur Michael Gaedt ins Spiel. Der freut sich, dass er als Neuling in Reutlingen "so freundlich aufgenommen wurde".

 

"Wenn man sich damit beschäftigt, tut sich ein ganzer Kosmos auf"


"Wir ergänzen uns einfach gut", sagt Reuter. "Wir kennen uns schon länger und wissen, wie wir künstlerisch ticken." Gaedt betont, dass sie sich absolut aufeinander verlassen können. "Da gibt es keinerlei Hahnenkampf. Ich hab’ so was noch nie erlebt."

 

Schätzen gelernt haben sich Alexander Reuter und der in Schwäbisch Gmünd geborene Michael Gaedt, als Reuter ihn für die Hauptrolle im Cole-Porter-Musical "Out Of This World" am Stuttgarter Alten Schauspielhaus coachte. Seither hat Reuter wiederholt als Regisseur für Gaedt und die Kleine Tierschau gearbeitet. Gaedt wiederum hat bei den Schlossfestspielen Zwingenberg zwei Opern inszeniert: Webers "Freischütz" und Mozarts "Entführung aus dem Serail". Und er ließ sich von Reuter, wie er das nennt, "auf die Spur setzen", als es darum ging, bei der "SOKO Stuttgart" mitzuspielen. Was Gaedt mittlerweile seit zehn Jahren tut. Als Gastwirt und Kfz-Mechaniker Schrotti ist er einer der Publikumslieblinge in der ZDF-Krimiserie.

Die Regisseure Michael Gaedt und Alexander Reuter (von links) fiebern der Premiere von

Die Regisseure Michael Gaedt und Alexander Reuter (von links) fiebern der Premiere von "Anatevka" am 15. Juni im Reutlinger Naturtheater entgegen. FOTO: STRÖHLE

Im November haben Reuter und Gaedt mit Vorproben für "Anatevka" begonnen, seit Januar erarbeiten sie mit den Darstellern Szene für Szene. "Ich hätte niemals gedacht, dass ich für dieses Stück brennen würde", sagt Gaedt. "Doch genau so ist es. Wenn man sich damit beschäftigt, tut sich ein ganzer Kosmos auf. Uns wird immer klarer, warum das Stück so ein weltweiter Erfolg, quer durch die Kulturen, ist." Dabei habe es – vor über 50 Jahren – Mut erfordert, ein solches Stück, ein Musical ohne Happy End, überhaupt zu schreiben. Reuter sieht die Hauptherausforderung darin, in diesem "ersten Musical, das einen etwas schwermütigen Hintergrund hatte, ehrliche, glaubhafte Figuren, die berühren, auf die Bühne zu bringen".

 

Nach der literarischen Vorlage "Tewje, der Milchmann" von Scholem Alejchem verfassten Jerry Bock (Musik) und Joseph Stein (Buch) das Stück, das den Beinamen "Fiddler on the Roof" trägt und 1964 am New Yorker Broadway uraufgeführt wurde. Die Liedtexte schrieb Sheldon Harnick (ins Deutsche übertragen von Rolf Merz und Gerhard Hagen).

 

Um 1905 spielt das Ganze. Im Lied "Tradition" besingt der Milchmann Tevje die Überlieferung, den Wert gesellschaftlicher Konventionen. Er stellt die jüdische Gemeinschaft des fiktiven Schtetl Anatevka im russischen Kaiserreich vor. Dass er einen "Stall voller Töchter" hat, die es zu verheiraten gilt, macht ihm zu schaffen. Und dass die Töchter ihre eigenen Vorstellungen vom guten Leben haben. Durch ein Pogrom wird die gesamte jüdische Bevölkerung am Ende aus Anatevka vertrieben.

 

Es gebe keine randständige, unwichtige Sache im Stück, jedes Wort zähle, sagt Gaedt. "Jeder Satz kann der Schlüssel zum ganzen Stück sein. Und alles ist wie ein Gedicht." Somit sei "Anatevka" ein sehr dankbares Stück, "weil es sich einer Tiefe und einer genauen Betrachtung nicht entzieht. Es lenkt nicht ab mit Chichi". Gut gefällt dem gebürtigen Schwäbisch Gmünder, dass insbesondere auch die Hauptfigur Tevje sehr menschlich ist. "Das heißt, er macht eklatante Fehler. Und es werden ihm auch Fehler nicht verziehen. Er ist kein strahlender Held, der eine Läuterung durchmacht. Er ist vielmehr sehr nah an der Realität."

 

"Jeder Satz kann der Schlüssel zum ganzen Stück sein"

Das Ensemble des Naturtheaters sei mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache, erklärt Reuter, der sich mit den Darstellern über den Text und die Sprache den Rollen nähert. Über seinen Kollegen Michael Gaedt sagt er: "Er geht der Psychologie der Figuren auf den Grund und weiß um die Bühnenwirksamkeit."

 

"Kleine Rollen" gebe es in dem Ensemblestück nicht, nur Rollen mit mehr und mit weniger Text, philosophiert Reuter. Als Zuschauer werde man mitgenommen in ein "Wellenbad der Gefühle". Nur über das Mitfühlen, über die Menschlichkeit lasse sich die Geschichte erfassen. "Das ist eine Herausforderung für alle Spieler und erlaubt keine Fehler. Deshalb wollen wir auch die kleinste Rolle gut hören."

 

In der Anfangsphase der Proben seien die Regisseure besonders gefordert. Doch je mehr ein solches Bühnenprojekt voranschreite, "umso unwichtiger sind wir", ist Reuter überzeugt. "Wenn wir es schaffen, dass das Ensemble die Endprobenphase und die Premiere im Grunde ohne uns hinbekommt, dann haben wir es richtig gemacht." (GEA)




© 1999-2024 ITOGETHER