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Foto: Kathrin Kipp

Foto: Kathrin Kipp

12.06.2013 - Reutlinger Nachrichten

Die Erde, das Meer und die Ferne

Das Naturtheater fährt auf große Reise: Mit Jules Verne geht es „In 80 Tagen um die Welt“, und „Mein Freund Wickie“ macht die Meere unsicher. Beim „Mitternachts-Special“ geht gar die ganze Welt unter.

 

KATHRIN KIPP


Aber vor der großen Götterdämmerung darf das Naturtheater Reutlingen (NTR) noch ein klein wenig feiern. Seit 150 Jahren frönt laut Vereinschef Rainer Kurze "Deutschlands einziges aus einem Arbeiterbildungsverein entstandenes Naturtheater" nun schon der Volkskunst. 1863 ging’s los mit Chorgesang, wenig später schon enterten die ersten Theaterfans die Vereinsbühne. 1912 folgte daraus die Gründung des "Dramatischen Clubs Reutlingen", der dann 1926 beschloss, an die frische Luft zu gehen.

 

Zwei Jahre später schon kämpfte sich die "Jungfrau von Orléans" wacker durch den Wasenwald. Kriegsbedingt musste das NTR fünf Jahre aussetzen, 1945 wurde die Zuschauertribüne durch einen Bombenangriff vollständig zerstört. Aber schon bald hallten die Rufe der Schauspieler wieder durch den Wald. Seit 2008 gibt es einen nagelneuen Holzbau, die Zuschauerzahlen steigen kontinuierlich: 2011 gab es einen Besucherrekord mit über 28 000 Zuschauern, auch wegen der steigenden Zahl an Fremdproduktionen, die bei den Wasenwald-Festspielen zu Gast sind.

 

Und so gibt’s auch diese Saison wieder 35 Veranstaltungen, vergangenes Wochenende wurden beim Tag der offenen Tür schon mal kleine Häppchen der diesjährigen Stücke serviert. Susanne Heydenreich inszeniert den Roman-Klassiker "In 80 Tagen um die Welt". Es geht um Technik, Fortschritt, Zeit, Be- und Entschleunigung – durchaus aktuelle Themen.

 

Mangels einer geeigneten Theaterversion hat Katharina Scholl, Dramaturgin am Stuttgarter Theater der Altstadt (Heydenreichs Stammhaus), eine eigene Fassung geschrieben, die von der Regisseurin nochmal speziell aufs Naturtheater zugeschnitten wurde. Eine Erzählerin führt durch das Reiseabenteuer, und diverse "Aussteiger" (Figuren, die ihre Rollen kurzfristig verlassen) spielen immer wieder auf heutige technische Sensationen und Großpannen an, bei denen man mal wieder sieht: Visionen sind das eine, Realisierungen etwas ganz anderes.

 

Sibylle Schulze hat für die 20 Darsteller in 80 Rollen die entsprechenden Kostüme zusammengesammelt und entworfen. Die atmosphärische Musik stammt vom erst 15-jährigen Komponisten Mikael Bagratuni, der akustisch all jene Situationen in Phantasieanregung übersetzt, die szenisch nicht machbar sind. Schließlich ist Theater kein Film und will es auch nicht sein.

 

Die anderen Illusionen ergeben sich durch das Bühnenbild von Jolanta Slowik, das ganz klar in eine Richtung geht: Blau – die Farbe fürs Reisen, für die Weite und Ferne. Denn auch im neuen Kinderstück wird viel gereist, vorzugsweise auf dem Meer.

 

Bei "Mein Freund Wickie" führt erstmals Janne Wagler die Regie, die mit dem Naturtheater für die Wikinger eine ziemlich authentische Szenerie vorfindet, schließlich haben "auch die Wikinger ständig unter freiem Himmel" gelebt. Mit dem kalten Winter und dem verregneten Frühling dieses Jahr konnte sich das Ensemble auch ganz gut auf die nordischen Verhältnisse im Stück einspielen.

 

Auch sehr authentisch fürs Wikingervölkchen ist die große Altersspanne bei den Darstellern (von drei bis über 50 Jahren), für die Regisseurin ein "großer Spaß, aber auch Herausforderung", wie Wagler sagt. Sehr authentisch sind auch die vielen Gruppenszenen, denn, wie jeder weiß, treten Wikinger vor allem im Rudel auf.

 

Trotzdem sei "Wickie" keine Humor- und Slapsticknummer, meint Janne Wagler, sondern vor allem ein atmosphärisches Stück mit vielen "leisen Tönen". Wickie ist nämlich kein typischer Wikinger-Junge, sondern bekanntlich eher sanft, sensibel und romantisch. Dass er so gar nicht nach dem Vater kommt, ist für junge Zuschauer gut nachvollziehbar. Das Märchen spiegelt außerdem die kindliche "Sehnsucht nach Freundschaft und Geborgenheit" wider, so Wagler. Wickies Gegenspieler heißt übrigens Gröll, und er wiederum bleibt – im Gegensatz zur Vorlage – bis zum Schluss böse, während die Wikinger am Ende erlöst werden: Zeit für acht Friedenstauben, nicht nur symbolisch in die Luft zu steigen.

 

Die Wikinger singen außerdem sehr gerne: Anselm Nadj hat den Haudegen-Chor entsprechend instruiert. Trude Heck, die seit vielen Jahren für die Kostüme der Naturtheater-Stücke zuständig ist, hat sich bei ihren Entwürfen sowohl von der Wikinger-Forschung inspirieren lassen, als auch von den gängigen Wickie-Bildern.




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