Reutlinger General-Anzeiger

Der Kulturmotor läuft und läuft und läuft

DAS EHRENAMT SPIELT IM NATURTHEATER REUTLINGEN AUF UND HINTER DER BÜHNE EINE WICHTIGE ROLLE, WIE HIER IN DER MASKE VOR EINER AUFFÜHRUNG. FOTO: MÖLLER

Auf Landesebene mit einem Preis für bürgerschaftliches Engagement ausgezeichnet, bietet das Naturtheater Reutlingen Jahr für Jahr Amateurtheater auf hohem Niveau – und erreicht damit Zehntausende. Zeit, sich den Verein und das ehrenamtliche Engagement seiner Mitglieder einmal näher anzusehen. Dass sich die Freilichtbühne auf ihr Publikum verlassen kann, zeigen aus-verkaufte Vorstellungen und Spenden fürs neue Betriebs-gebäude.

VON CHRISTOPH B. STRÖHLE

REUTLINGEN. Naturtheater Reutlingen – das ist eine Sache von wenigen Wochen im Sommer. Könnte man meinen. Doch weit gefehlt: Fast das ganze Jahr über sind ehrenamtliche Helfer im Einsatz, um fast drei Dutzend Theateraufführungen und andere Kulturveranstaltungen zu gestalten und die Freilichttheateranlage mitsamt den Funktions-gebäuden in Schuss zu halten. Rund die Hälfte der Vereinsmitglieder ist als Spielerin oder Spieler oder hinter den Kulissen aktiv.

»Das gemeinsame, oft generationenübergreifende Spiel in den Amateurtheatern ist unverzichtbar für das kulturelle Leben in unserem Land«, hat Kunststaatssekretär Arne Braun im Jahr 2023 in Pforzheim gesagt, wo das Naturtheater Reutlingen im Zuge des alle zwei Jahre vergebenen Landesamateurtheaterpreises (Lamathea) den Sonderpreis für bürgerschaftliches Engagement erhielt.

Bis 1 Uhr nachts

»Ohne das großartige ehrenamtliche Engagement wäre unsere Gesellschaft kaum denkbar«, sagte Braun weiter. Die gelebte und gezeigte Vielfalt auf den Bühnen erzeuge »Zuversicht, Energie und Orientierung, die wir in den komplizierten Zeiten, in denen wir leben, so dringend brauchen«.

Das Naturtheater Reutlingen ist eine der ältesten und größten Freilichtbühnen Baden-Württembergs und wird seit seiner Gründung ehrenamtlich getragen. Die Zahl der Mitglieder ist zuletzt auf rund 350 gestiegen – wozu die jährliche Info-Veranstaltung für Neuinteressierte beigetragen hat. Bevor es diese gab, lag die Zahl bei rund 300.

150 bis 170 Mitglieder sind an einem typischen Samstag im Sommer ehrenamtlich im Einsatz, wenn nachmittags das Kinder- und abends das Erwachsenenstück aufgeführt wird. »Das ist das Stammpersonal, das gebraucht wird«, sagt der Vorsitzende Rainer Kurze. Manche sind den ganzen Tag über da, bei anderen gibt es zwischen den Stücken einen fliegenden Wechsel. Dann muss beispielsweise die Tontechnik die ganzen Mikrofone fürs nächste Stück richten. Das Putzteam ist im Einsatz, die Helfer auf dem Parkplatz, an der Theaterkasse und am Einlass sowie an den Versorgungsständen. Und natürlich die Bühnenarbeiter, die Aktiven in der Kostümabteilung, an den Schminktischen. Bis der Letzte nach der Abendvorstellung das Gelände verlässt, kann es schon mal 1 Uhr nachts werden.

Aufs ganze Jahr gesehen kommen im Verein zwischen 25.000 und 30.000 Ehrenamtsstunden zusammen, hat Rainer Kurze ausge-rechnet. Die einzige ruhigere Phase gebe es im September, wenn die Wasenwald-Festspiele vorbei sind. Schon im Oktober beginnt dann wieder der Kartenvorverkauf fürs Folgejahr. Ab November wird für die zwei Eigenproduktionen geprobt – im kommenden Jahr sind das »Der Besuch der alten Dame« und »Die Schule der magischen Tiere«. Zwei- bis dreimal pro Woche finden Proben statt. Das können Theater-, Tanz- oder Musik-Proben bis hin zu Einzel-Coachings sein.

Die Stücke fürs Folgejahr werden meist im März oder April ausge-wählt. Dann geht es darum, zügig Verträge mit den Honorarkräften im künstlerischen Bereich – Regie, musikalische Leitung, Bühnenbild, Kostümbild, Choreografie – zu schließen. Dort sind seit eh und je Profis im Einsatz.

 

Handwerker im Team

In den Werkstätten werden bereits im Januar die ersten Kostüme hergestellt. Das Bühnen-bau-Team arbeitet ab März draußen, wobei Vorarbeiten im Winter drinnen stattfinden.

Und es werden kleinere eigene Sanierungsmaßnahmen auf dem Gelände in Angriff genommen. Da trifft es sich gut, dass der Verein geschickte Handwerker in seinen Reihen hat – Elektromeister, Zimmerleute, Kraftfahrzeugmechaniker –, die genau wissen, was zu tun ist.

RAINER KURZE IST VORSITZENDER DES VEREINS NATURTHEATER REUTLINGEN. FOTO: MUCKENFUSS

»Das Naturtheater wäre ohne Ehrenamt gar nicht machbar. Das ist das größte und wichtigste Gut, das wir haben«, sagt Rainer Kurze, der seit 1983 Teil der Natur-theater-Familie ist. Als jugend-licher Liebhaber in Johann Nestroys Komödie »Einen Jux will er sich machen« fing er an. Er war dann jahrelang Jugendleiter und zweiter Vorsitzender im Verein – dem er seit 2003 als Haupt-verantwortlicher vorsteht.

»Je mehr man in Verantwortung steckt, desto mehr versucht man, das Theater neu zu gestalten«, sagt Kurze. »Man ist ja als Generation immer nur eine Zeit lang Begleiter von etwas. Man hat es von anderen übernommen, Generationen haben es aufgebaut. Was damals richtig war, kann heute schon wieder falsch sein. Man muss die Dinge ständig neu bewerten, sie weiterentwickeln und überlegen, welche Akzente man setzen kann.«

Rückzugsort für die Jugend

Kurze und sein Team haben eindeutig einen Schwerpunkt bei Bau-maßnahmen gesetzt. Die Zuschauerhalle wurde 2008 neu gebaut – ein 1,4 Millionen Euro teures Projekt, an das sich zuvor niemand rangetraut hatte. Zudem wurden unter anderem die Zuschauer-toiletten erweitert, der Popcornstand neu gebaut. Das vom Verein aufgenommene Darlehen in Höhe von knapp 700.000 Euro ist seit diesem Sommer komplett abbezahlt. Was dem Verein Luft verschafft, die er braucht. Denn mit der Errichtung eines neuen Betriebs-gebäudes steht bereits die nächste große Baumaßnahme an. Seit 2019 haben die Zuschauerinnen und Zuschauer dafür rund 170.000 Euro gespendet (12.000 Euro allein in diesem Sommer).

Aus dem Gebäude, in dem bis vor ein paar Jahren die Gastwirtschaft war, soll künftig ein reines Kostümhaus mit Schneiderei werden. Wo bislang die Schneiderei ist, soll künftig die Jugend ihren Rückzugsort bekommen. Es gibt Familien, die sich im Naturtheater in bis zu vier Generationen gleichzeitig engagieren.

Bekommen die Ehrenamtlichen für ihren unermüdlichen Einsatz eigentlich auch etwas zurück? Ja, sagt Rainer Kurze. Sie werden im Schauspiel, in der musikalischen Ausbildung gefördert, lernen von klein auf, selbstständig aufzutreten und Verantwortung zu über-nehmen. Auch bietet der Verein über die Theaterverbände Fort-bildungen an. Es gibt – neben dem Beifall des Publikums – ein kleines Premierengeschenk, außerdem einen jährlichen Vereinsausflug.

Kurze erwähnt zudem Menschen, die im Naturtheater ihr erstes Know-how erworben haben und später ins Profifach gewechselt sind. Das beste Beispiel dafür sei Susanne Heydenreich, die 1980 die Hauptrolle in »Die kleine Hexe« gespielt hat. Die gebürtige Münchnerin hat später jahrelang Stücke im Reutlinger Naturtheater inszeniert und als Intendantin das Stuttgarter Theater der Altstadt geleitet. (GEA)